Der Hundertjährige, der auf sein Fahrrad stieg und losfuhr

Quelle: Dübener Wochenspiegel, 07.10.2020, "Unter vier Augen" heute mit: Gerhard Tiegel 

(Bad Düben/Wsp/kp). „Wann passt es denn bei Ihnen zeitlich?“ Gerhard Tiegel zückt seinen Kalender und sagt beiläufig mit einem schelmischen Grinsen: „Mal schauen, vor dem Aufstehen wird‘s nichts!“ Den Humor hat sich der sympathische Mann bewahrt – auch im (sehr) hohen Alter. Am Montag feierte der Bad Dübener seinen 100. Geburtstag. Nicht etwa daheim im Betreuten Wohnen der Arbeiterwohlfahrt, sondern bei seiner sechs Jahre jüngeren Schwester in der Lüneburger Heide. Der Trubel in der Kurstadt wäre ihm zu viel gewesen. „Da mach ich lieber eine schöne Reise“, sagt Tiegel. Eine Feier in vertrauter Runde wird jedoch Ende Oktober nachgeholt.

Gerhard Tiegel erinnert etwas an Allan Karlsson. Die Hauptfigur des internationalen Bestsellers „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ von Jonas Jonasson ergriff kurz vor der großen Jubiläumsfete die Flucht und erlebte noch die außergewöhnlichsten Dinge. Bei Tiegel ist es ähnlich. Er ist – salopp formuliert – viel zu beschäftigt, um das Zeitliche zu segnen. Noch immer dreht er jeden Tag seine Fahrradrunde. Waren es bis vor wenigen Jahren im Schnitt noch über 50 Kilometer täglich, schafft er heute je nach Witterung und Befinden noch 20. „Ich bin auf der Suche nach einem Hundertjährigen, der da mit mir mithalten kann“, sagt der Senior voller Stolz. Zumindest über die Muldebrücke, bis nach Wellaune und zurück sollte es schon sein.

Bewegung sei sein Erfolgsrezept. „Und einen guten Arzt braucht man. Den habe ich mit Jens Franke. Er sagt immer nur ein Wort: bewegen.“ Ein Schrittmacher verrichtet gute Arbeit, die Sehkraft lässt langsam nach und das Laufen fällt ihm etwas schwer. Dennoch: Für sein Alter ist der Jubilar topfit, auch geistig. Er kocht selbst, kümmert sich um die Hauswirtschaft und beschäftigt sich mit seinem Hobby – dem Amateurfilm. Auf Stadtfesten, bei jedem (!) Tornauer Holzskulpturenwettbewerb und auf seinen zahlreichen Reisen hat er stets seine Kamera dabei. Hinterher wird aufwendig geschnitten. „Derzeit bin ich dabei, meine alten VHS-Kasetten auf DVD zu überspielen“, verrät der Mann, der vom Leben in Bad Düben und Kontakt mit den Leuten schwärmt.

Tausende Meter Filmrollen lagern fein säuberlich geschnitten, beschriftet und sortiert in seiner Wohnung. Der Heidefreund hat noch einiges vor. Die Reisen für kommendes Jahr sind längst gebucht, Videokasetten sind auch noch genügend da.

Gerhard Tiegel kommt am 5. Oktober 1920 als erstes von fünf Kindern in Görschlitz zur Welt, wuchs dort auch auf. Die Eltern hatten eine kleine Landwirtschaft. „Von den paar Hektarn konnten wir uns aber nicht ernähren, weshalb wir uns immer noch etwas nebenbei verdienten“, erinnert er sich. Im Alter von 17 Jahren wollte er zusammen mit einem Freund die große Welt erkunden – mit dem Rad bis nach Amerika. „Bis nach Magdeburg sind wir gekommen“, schmunzelt der rüstige Rentner.

Also ging es zurück nach Görschlitz zum Bauern, ehe er im Zweiten Weltkrieg als „Motorisierter“ eingezogen wurde. Tiegel war in Frankreich im Einsatz, wurde mit seiner Einheit über Nacht nach Russland verlegt. „Tausende Kilometer lang hörten wir keinen Schuss. An der ersten Häuserzeile in Stalingrad habe ich einen Granatsplitter in den Oberschenkel bekommen. Zum Glück ist nicht mehr passiert“, berichtet der heute 100-Jährige. Nach kurzer Pause in Deutschland ging es über Frankreich nach Italien, wo er 1945 in Neapel für zwei Jahre in englische Kriegsgefangenschaft geriet.

Zurück in der Heimat lernte er den Beruf des Traktoristen, arbeitete in seinem neuen Wohnort Söllichau bei der LPG und später im Forst. Als der Rücken nicht mehr mitmachte, war er – schließlich bis zum Eintritt ins Rentenalter 1985 – als Hausmeister in der Betriebsschule tätig.

Mit seiner Frau Gertrud, die vor 18 Jahren mit 80 verstarb, hat er zwei Söhne, einer davon starb bereits zeitig, fünf Enkel und einige Ur- und Ururenkel. „Die Beziehung zu meiner Frau hat eine wirklich gute Entwicklung genommen. Wir haben uns eine schöne Zeit gemacht“, denkt Tiegel gern zurück.

„Ich habe immer großes Glück gehabt. Im Krieg ist knapp neben meinem Schützengraben mal eine Granate explodiert. Die hätte mich auch er­wischen können. Auch so kann ich mich bis heute nicht beklagen“, sagt ein rundum zufriedener und stets positiv denkender Mann. Beeindruckend. Dann musste er los. Ab auf‘s Rad. Termine!

 

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