Quelle: 30. Juni 2023, LVZ Lokales
Delitzsch/Beerendorf. Es war ein Dienstag. Ein verfluchter Dienstag im Dezember 2020. Kurz nach dem Nikolaustag. Wenig später waren 14 Menschen tot.
Im Seniorenzentrum der Arbeiterwohlfahrt (Awo) im Delitzscher Ortsteil Beerendorf wissen sie noch genau, wie das damals war. Das Leben mit Corona. Und das Sterben. Im Dezember 2020 verloren in diesem Heim 14 Menschen ihr Leben, nachdem das Virus irgendwie seinen Weg ins Haus gefunden und am Nikolaustag den ersten Test zum Ausschlag gebracht hatte. Fast 100 Personen, Mitarbeiter und Bewohner, waren infiziert. Was bleibt von Corona? Nach solchen Schlägen?
In Beerendorf ist die Pandemie nicht vergessen Natürlich, wer in der Pflege von alten Menschen arbeitet, der ist – vielleicht mehr als andere – darauf eingestellt, dass das Leben
endlich ist. „Doch die Corona-Zeit war anders“, sagen sie in dem Awo-Heim. Letztlich sei die Zeit folgenreich bis heute. Wie bei einem Virus könne man die Folgen nicht sehen, aber die Auswirkungen spüren. Ein Alltag sei wieder da. Aber es sei nicht der Alltag wie vor Corona. Im Hinterkopf sei da immer noch was, sagen sie in Beerendorf.
Die Pandemie mag offiziell vorbei sein, in Heimen wie diesem ist sie nicht vergessen. „Das Virus ist heute vielleicht für viele Menschen kein Thema mehr, aber für uns war Corona bis zum letzten Augenblick präsent. Und das bleibt als Nachwirkung“, resümiert Anke Tost. Die 57-Jährige ist Pflegedienstleiterin, arbeitet seit mehr als 20 Jahren in dem Seniorenhaus, schon seit 1990 für die Awo. „Das ging schon alles an die Substanz“ Es gibt auch in Heimen keine Maskenpflicht mehr. „Wir sind natürlich froh, dass wir sie nicht mehr tragen müssen“, sagt Anke Tost. „Wenn jemand hustet, geht man doch noch mal instinktiv einen Schritt zurück“, ergänzt Betreuungsassistentin Susanne Petin (37), „man hat das total abgespeichert.“ „Ich finde es auch heute noch gar nicht so schlecht, hin und wieder eine Maske aufzusetzen“, erzählt Ines Vollkammer (52), Leiterin der Tagespflege und Betriebsrätin. „Zum Beispiel bei der Wundversorgung, da trage ich die Maske immer noch sehr gerne. Manchmal wünscht man sich im Alltag den Abstand zurück. Nicht nur hier im Heim“, erzählt der stellvertretende Wohnbereichsleiter Dhruval Patel. Der 28-Jährige arbeitet seit 2015 in Beerendorf. Sie alle sind also froh, dass im Lager noch etliche Kartons mit Masken vorhanden sind. Auch Kartons mit Schutzanzügen findet man dort noch zuhauf, genau wie Corona-Tests und anderes, was einen durch die Pandemie begleitete. Und all die Akten mit der Dokumentation
sind eingelagert. Sie sind Zeugnis einer Ausnahmesituation, von der alle hofften, dass sie nur die Wochen des ersten Lockdowns dauern würde. Doch es wurden Pandemie-Jahre.
„Es war für uns auch immer die Angst da, dass wir die Versorgung nicht mehr gewährleisten können, trotz unserer intensiven Bemühungen“, erinnert sich Anke Tost. „Und allein diese Angst macht natürlich was mit Menschen, die bleibt in einem haften.“ Auch die Angst vor dem „Einschlag“ bei den Seniorinnen und Senioren oder dem Personal. „Wir wussten seit Sommer 2020, dass es auch uns passieren wird, dass Corona ins Heim kommt“, erinnert sich Heimleiter Christian Schulze (60).
Alle möglichen Maßnahmen hätten sie ergriffen, alles getan und sich gewappnet mit den damals üblichen Schutzvorkehrungen. „Aber ein Virus sieht man halt nicht, am Ende ist man chancenlos dagegen.“ Rasend schnell sei dann alles gegangen. Ohnmächtig hätten sie sich gefühlt, erinnert sich Anke Tost. Dass es sie auch noch so kurz vor den ersten Impfungen erwischte, sei besonders ärgerlich gewesen. Dass viel Personal ausfiel, verschärfte die Situation und die Arbeitsbelastung. Manchmal hätten sie sich tatsächlich so gefühlt, als würden sie auf dem Zahnfleisch krauchen. Die Aufarbeitung findet jetzt erst statt „Dass Menschen auf ihren Balkonen geklatscht haben, war zwar lieb gemeint, am Ende aber nur ein schwacher Trost“, sagt Susanne Petin. Seelsorge „hoch zehn“ hätten sie betrieben, erzählt die Betreuungsassistentin weiter. Vor allem die Zeit der Isolation sei für die Bewohnerinnen und Bewohner hart gewesen. Ganz viel und noch mehr als sonst habe man da in der Pflege auffangen müssen – auch bei besorgten Angehörigen, denen sie Trost gespendet hätten, so gut es eben ging. „Das ging schon alles an die Substanz“, gesteht die 37-Jährige, „man hätte Menschen gerne tröstend umarmt, durfte es aber nicht.“
Was seine Leute in ihrem Beruf, der so viel Einfühlungsvermögen verlangt, geleistet und ausgehalten haben, sei eine enorme Leistung, sagt Heimleiter Christian Schulze. Kolleginnen und Kollegen mit einem zutiefst menschlichen Beruf mussten humane Gesten wie das Umarmen oder wenigstens mal das Tätscheln der Schultern schlicht unterdrücken. „Das macht was mit den Leuten“, sagt er. In der akuten Phase der Pandemie hätten sie keine Zeit gehabt, die Aufarbeitung finde nun erst danach statt. Sie würden jetzt viel und oft über die Corona-Zeit reden.
Während andere sie vergessen wollen, ist die Corona-Pandemie im
Awo-Heim in Beerendorf weiter Thema. Die Impfquote ist hoch, auch wenn nicht alle gleich Hurra schrien. Ein großer Wunsch bleibt derweil: der nach einem besseren Personalschlüssel. Gerettet hätte der die 14 Menschen vielleicht nicht, aber er würde generell bessere Bedingungen in der Pflege schaffen – für die, die gepflegt werden und für die, die pflegen. „Den Personalschlüssel gibt die Politik vor“, betont Christian Schulze. Ein Tag richtig in der Pflege arbeiten und mal sehen, worum es dabei geht – das rät Ines Vollkammer allen Politikerinnen und Politikern.