Neuer Alltag in Bad Düben – Gedanken an den Krieg in der Heimat aber bleiben

Familie Nadtochii ist vor einem Jahr aus der Ukraine in die Kurstadt geflüchtet. Dort versuchen sie sich neu einzurichten. Ihr Glaube macht ihnen Mut – und manchmal helfen auch Blumen.

 

Quelle: Samstag, 11. März 2023 LVZ Lokales

Bad Düben: Die Hauptstadt von Deutschland? Bad Düben! Zumindest wenn es nach Lisa, der achtjährigen Tochter von Alona Nadtochii (28), geht. Die ukrainische Familie ist im vergangenen Jahr nach Kriegsausbruch in die nordsächsische Stadt geflüchtet. Lisa und Alonas achtjähriger Schwester gefällt es hier gut, so gut, dass sie Bad Düben zur Hauptstadt erklärt haben. Wie als Zeichen dafür, hängt in ihrer Wohnung ein Wimpel mit dem Wappen der Stadt an einem Regal. Auch Alona schwärmt von der „kleinen, gemütlichen Stadt“. Hier müsse sie sich keine Gedanken machen, wenn die Kinder draußen spielen. In Deutschland ist deshalb auch kein anderer Wohnort fürnsie denkbar. Aber eigentlich, das betont sie immer wieder, will sie schnellstmöglich zurück in ihre Heimat. Die liegt in der Region Kiew, in der Kleinstadt Jahotyn. Rund 450 Kilometer von der Front entfernt – sicher ist sie aber nicht. Alonas Mutter ist nicht wie die anderen Familienmitglieder schon im März 2022 geflüchtet. Sie wollte ihren Sohn, der an der Front kämpfen muss, nicht alleine in der Ukraine zurücklassen. Als sie das erzählt, muss sie sich Tränen aus den Augen wischen. „Als ich noch in Jahotyn war, habe ich immer wieder russische Raketen und Militärflugzeuge über der Stadt und den Nachbarorten gesehen“, berichtet sie. Im Dezember besuchte Alona ihre Mutter in der Ukraine –und kehrte zusammen mit ihr nach Deutschland zurück.
Der Mehrgenerationenhaushalt in der Bad Dübener Dachgeschosswohnung ist also weiter gewachsen. „Wir haben zuvor zwar alle in der gleichen Stadt gewohnt, aber in der gleichen Wohnung ist es nochmal schöner“, findet Alona. Wenn es nach ihr geht, soll ihr Mann auch noch dazukommen. Doch der habe sich dafür entschieden, als Soldat sein Land zu verteidigen. „Ich habe jeden einzelnen Tag Angst um ihn“, sagt Alona mit bedrückter Stimme. Die Familie kennt viele junge Männer aus Jahotyn, die im Krieg gefallen sind.

Familie Nadtochii hat zwei Strategien, um mit den Gedanken an die Lage in der Ukraine umzugehen: Zum einen finden die Frauen Halt in ihrem Glauben. Alona und ihre Familie gehen fast jede Woche in die Kirche. Es berührt sie, dass in den Gottesdiensten in Bad Düben immer noch für die Ukraine gebetet wird. Auch zuhause spielt der Glaube eine Rolle, im Wohnzimmer liegt eine Bibel in kyrillischer Schrift auf einem Tisch voller Blumen. Die Blumen sind Teil der zweiten Strategie: Die Familie will sich an den schönen Dingen erfreuen und sich im Alltag in Bad Düben einrichten. Das ist gut gelungen: Alona besucht täglich Deutschkurse, denn „die Sprache ist das schwierigste beim Einleben in Deutschland“.
Die Kinder gehen zur Schule und sind begeistert vom Turnverein. Die Schwiegermutter hat einen Job im griechischrussischen Restaurant Patrida in Bad Düben gefunden, mit der
russischsprachigen Inhaberin kann sie sich auch ohne Deutschkenntnisse verständigen. Und alle zusammen lenken sie sich mit Kartenspielen, Mühle und Jenga ab.
Bleibt die Familie in Deutschland?
Die Familie hat in Bad Düben schon einige Kontakte geknüpft. Mit den „sehr netten Leuten“ der AWO, denen die Familie unendlich dankbar ist für die Unterstützung, mit anderen Geflüchteten aus der Ukraine und mit Leuten aus Kasachstan. Über die ukrainische Politik, den Krieg und Russland wird dann aber nicht gesprochen.
„Jeder weiß, dass uns das belastet. Wir reden über andere Sachen. Politik bleibt Politik.“ Auch wenn der Wunsch besteht, in die Ukraine zurückzukehren, macht sich Alona Gedanken darum, was ist, wenn ihre Familie länger in Deutschland bleiben muss. „Denn wir gehen erst zurück, wenn der Krieg ganz vorbei ist.“ In der Ukraine hat Alona als Krankenschwester
gearbeitet, wenn ihre Deutschkenntnisse besser werden, möchte sie einen guten Job in ihrem alten Beruf finden. Fast genau ein Jahr ist die Familie nun schon in Bad Düben – „es
fühlt sich an wie ein Tag“, sagt Alona. Der 6. März, der Jahrestag der Ankunft in Deutschland, war für die Familie etwas besonderes. Aber bei aller Freude über das sichere Zuhause, berichtet Alona, sei es trotzdem ein trauriger Tag gewesen. Auch an diesem hätten sie ihren normalen Alltag in Bad Düben gelebt – zu dem auch das ständige Beobachten der schrecklichen Nachrichten aus ihrem Heimatland gehört.

Von Sebastian Scheffel

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